Unternehmen müssen aufhören, immer nach Helden und Schuldigen zu suchen, findet Tina Stürken. Sie hat als Geschäftsführerin einer Ingenieursgesellschaft intuitiv vieles entwickelt, was heute als „New Work“ gilt.
Tina Stürken ist Unternehmerin. „Alles was vorstellbar ist, ist auch erreichbar“, hat ihr Vater ihr früh mit auf den Weg gegeben. Vorstellen konnte sie sich, die von ihm in Worpswede gegründete Ingenieursgesellschaft groß zu machen. Gedacht, gemacht: Unter ihrer Führung wurde john becker ingenieure zum Hidden Champion in der Planung von Anlagen für die Energie- und Wasserwirtschaft. Die Zahl der Mitarbeiter stieg von 20 auf 80. Im Jahr 2019 hat Tina Stürken die Geschäftsführung an ihren Bruder weitergereicht. Nun berät die 43-jährige Bremerin Unternehmer und Führungskräfte.
Du warst zwanzig Jahre lang Geschäftsführerin einer familiengeführten Ingenieursgesellschaft. Was war für dich als Unternehmerin wichtig?
Für mich war es immer wichtig, weit über den Tellerrand zu schauen. Also immer wachsam auf die Entwicklungen des Marktes zu achten und schnell darauf reagieren zu können. Nicht lange bürokratische Schleifen zu drehen, sondern im engen Kontakt mit den Mitarbeitern zu stehen und sie zu ermächtigen, selbständig Entscheidungen zu treffen.
Warum war dir die Eigenständigkeit der Mitarbeiter so wichtig?
Ich habe eine Ingenieursgesellschaft geführt, bin aber selbst keine Ingenieurin. Also bin ich davon abhängig gewesen, dass die Mitarbeiter zur richtigen Zeit, mit der richtigen Kompetenz und vor allem mit Begeisterung am richtigen Platz sitzen.
Wie gelingt es denn, dass die richtigen Talente zur Stelle sind?
Indem man den Mut hat, der Mannschaft viel Verantwortung zu geben. Und das Vertrauen, dass der richtige Mensch sich zum richtigen Zeitpunkt diese Verantwortung nimmt. Wichtig ist: Ich darf dieser Person die Aufgabe nicht geben. Ich biete sie ihr an.
Heute gelten flachen Hierarchien als Teil der modernen Unternehmensführung. Wie war dein Weg dahin?
Eigentlich habe ich es immer schon intuitiv so gemacht. Ich habe die Menschen selber denken lassen. Ich weiß gar nicht, ob ich das auch so gemacht hätte, wenn ich selbst Expertin in allem gewesen wäre. Dieser vermeintliche Mangel hat mir als Quereinsteigerin geholfen, bedarfsorientiert Strukturen und Prozesse zu etablieren, die eine hohe Wertschöpfung erzeugen und einen unheimlichen Erfolg auf die Straße bringen.
Man muss aufhören, immer nach Helden und nach Schuldigen zu suchen, und sich wieder als Wertschöpfungs-gemeinschaft verstehen.
Tina Stürken
Wie hast du andere Unternehmen wahrgenommen?
Ich habe oft gesehen, dass Unternehmen sehr steuerungs- und kontrollgeleitet geführt sind mit dem Ziel, möglichst wenig Fehler zu machen. Die Betriebswirtschaft ist ja die Mutter der Management-Systeme. Das sind die Denkmodelle, mit denen wir groß geworden sind. Ich habe ja selbst BWL studiert. Sie geben uns das Gefühl, planen zu können, das Ruder in der Hand zu haben. Aber die Wirklichkeit sieht anders aus. Die Grundlage der Wirtschaft hat sich verändert, wir leben in dynamischen Märkten und können fast nie linear planen und steuern, an dieser weltfremden mechanistisch geprägten BWL-Denke zerbrechen viele Unternehmen.
Ich bin natürlich selbst auch einigen Trends auf den Leim gegangen. Eine Zeit lang habe ich gedacht, Zielvereinbarungssysteme würden die Motivation der Mitarbeiter fördern. Im Ergebnis hat das unsere ganze Kultur zerstört!
Wie ist denn das passiert?
Was ich befördert habe war die individuelle Sichtweise, den Egoismus. Ich habe nicht mehr die Wertschöpfungsgemeinschaft in den Vordergrund gestellt. Das ging zulasten von Dialogen, gemeinsamen Innovationen, der Einarbeitung neuer Mitarbeiter und der Wissensweitergabe, weil sich jeder nur seinem eigenen Ziel verschrieben hat. Und das machte sich später sogar monetär, im Gewinn, deutlich bemerkbar.
Unsere Projekte werden ja zunehmend komplexer, zum Beispiel die Planung einer Kläranlage. Die kann ein einzelner nicht mehr überblicken. Wenn sich die Menschen dann individuell für ihre Leistung verantworten müssen, führt das dazu, dass sie aus Angst vor Fehlern nicht mehr selbständig und im Sinne des Kundennutzens denken.
Und die Lösung ist, die Verantwortung auf die Gemeinschaft umzulegen?
Man muss aufhören, immer nach Helden und nach Schuldigen zu suchen, und sich wieder als Wertschöpfungsgemeinschaft verstehen. Man sollte sich darauf konzentrieren, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen Wertschöpfung entstehen kann. Wir leben heute in der sogenannten VUCA-Welt, in der man schnell auf sich verändernde Rahmenbedingungen reagieren muss. Im Umgang mit Unsicherheit – und die Corona-Pandemie ist ein gutes Beispiel dafür – kann man als Führungskraft nur Leitplanken setzen. Da gibt es nie ein Richtig und ein Falsch. Nur andere Wege. Solange man als Unternehmer immer in dieser Dualität denkt, wird man nie vorankommen.
Was sollten Unternehmen deiner Erfahrung nach tun?
Du musst als Unternehmer alles abschaffen, was der Wertschöpfung im Wege steht: alle Richtlinien, alle Checklisten, alle Boni-Systeme, alle Reportings – alles was dazu führt, dass die Menschen nicht mehr selbst denken müssen und denken dürfen, sonst erntet man nur erwartungskonformes Verhalten aber niemals problemlösendes Denken.
Trainiere deine Mitarbeiter darin, mit Komplexität umzugehen. Gib ihnen neue Denkimpulse. Schaffe Dialogräume, in denen man Wissen austauschen und gemeinsam auf kreative Ideen kommen kann. Gründe Innovationswerkstätten und heiße Fehler willkommen.
Was auch wichtig ist: Sorge für Vielfalt im Unternehmen. Suche dir Leute, die dir immer wieder widersprechen und querdenken – zum Wohle der Innovationsfähigkeit.
Manche nehmen an, dass New Work keine Führungskräfte mehr braucht. Was sagst du dazu?
Im Gegenteil. Führung erhält einen ganz großen Stellenwert. Aber mehr in Richtung Dialogoräume schaffen, Austausch fördern und Talente entdecken. Die Führungskraft steuert viel engmaschiger. Über Experimentieren, Beobachten und Austauschen in ganz engen Dialogschleifen. Sie muss Prinzipien entwickeln und für passende Strukturen und Rahmenbedingungen sorgen. Das ist auch kein Coaching wie viele meinen. Am Ende vertritt die Führungskraft gemäß ihrer Funktion immer noch das Unternehmensinteresse und das steht im Widerspruch zum Coaching, das sich am Mitarbeiterbedürfnis orientiert und der Persönlichkeitsentwicklung dienen soll.
Veränderung ist ja nie einfach. Wie kann sie dennoch gelingen?
So ein Veränderungsprozess läuft nie deterministisch ab und ist damit nie kontrollierbar, da soziale Systeme, wie es Unternehmen nun mal sind, keine Maschinen sind. Daher müssen Führungskräfte mit hoher Unsicherheit umgehen. Tue ich jetzt wirklich das Richtige? Wo führt das hin? Wie verhält sich die Organisation? Vor allen Dingen müssen Entscheider in diesen Prozessen deutliche Entscheidungen treffen, auch wenn noch nicht klar ist, wo es hinführt.
Wichtig ist, dass sich jede Veränderung an der Wertschöpfung, nämlich an Kunden- und Marktbedürfnissen, orientiert. Erstens sorgt eine gut organisierte Wertschöpfung für wirtschaftlichen Erfolg. Und zweitens sorgt eine gut organisierte Wertschöpfung für ein Gefühl von Wirkung und Zufriedenheit bei den Mitarbeitern. Und der Gewinn davon ist festzustellen, wieviel mehr Freude das Arbeiten bringt, wenn einem schon am Morgen fünf Leute entgegenkommen, die tolle Ideen haben.
Die Kunst liegt im Weglassen, in der Deregulation und in der Verantwortungsübertragung an die Mitarbeiter. Unternehmen, die auf diese Weise neue Zellstrukturen bilden dürfen, können viel schneller PS auf die Straße bringen.
Ganz ohne Planung geht es wohl nicht. Wie kann eine weniger regelbasierte Führung aussehen, bei der trotzdem alle an einem Strang ziehen?
Durch iterative, also schrittweise Steuerung. Es sollte ein breit gesteckter Zielhorizont für das nächste Jahr entwickelt werden, auf den sich alle Entscheidungen richten. Auf welchen Wegen es die Mitarbeiter schaffen, das Ziel zu erreichen, ist dann egal. Gemeinsam schaut man zum Beispiel vierwöchentlich: Wo stehen wir? Um auch mal kurzfristig sagen zu können: Wir schlagen eine andere Richtung ein. Regeln weichen nun Prinzipien, die leitend für Entscheidungen sind und nach denen wir handeln wollen, denn jede Regel verdrängt ein Stück Eigenverantwortung, Denken und Lebendigkeit aus dem Unternehmen. Zum Beispiel das Prinzip „Wir reisen ökologisch und wirtschaftlich“ ersetzt dann komplizierte Reisekostenregelungen.
Welchen Tipp würdest du Unternehmen noch geben?
Lasst den Markt ins Unternehmen! Sorgt dafür, dass die Referenz des Handelns die externe Referenz, also der Kunde, ist. Wir müssen mit dem Blick nach draußen unterwegs sein. Das ist häufig nicht der Fall. Unternehmen sind zu 60 Prozent mit sich selbst beschäftigt. Deshalb ist dort noch so unglaublich viel Potenzial versteckt
Ich bin mir sicher, dass viele gut ausgebildete Unternehmer die Sichtweisen moderner Unternehmensführung noch gar nicht kennen und ihnen viel Entlastung und neue Gestaltungsmöglichkeiten schenken würde. Ich habe es jedenfalls als Geschenk erlebt!
Mehr über Tina Stürken unter tinastuerken.de oder www.xing.com/profile/Tina_Stuerken.